Sicherheit ist zwar ein hohes Gut in Deutschland, doch es gibt sie nicht für alle Menschen und vor allem nicht für alle Menschen gleichermaßen. Im Vorwort erläutern die Herausgeberinnen der Amadeu Antonio Stiftung und der Heinrich-Böll-Stiftung, wieso eine neue Sicherheitsdebatte gerade jetzt notwendig ist.
Sicherheit ist in Deutschland ein hohes Gut. Staatliche Sicherheitsorgane wie Polizei, Grenzschutz, Bundeswehr, Verfassungsschutz arbeiten weitgehend zuverlässig. Das zumindest ist das Bild, das gern transportiert wird. Aber Sicherheit gibt es in Deutschland nicht für alle Menschen und vor allem nicht für alle Menschen gleichermaßen.
Gewalt und Bedrohung gehören in Deutschland für viele zum Alltag. Frauen, nicht-weiße Menschen, Jüd:innen und Juden, Sinti:zze und Rom:nja, Muslim:innen oder queere Menschen können sich an vielen Stellen nicht sicher fühlen, sei es im eigenen Zuhause, an öffentlichen Orten oder auch im digitalen Raum. Sie können auch jederzeit Opfer von Racial Profiling, Opfer rassistischer Gewalt in öffentlichen Räumen oder willkürlicher Polizeigewalt werden.
Hinzu kommt: Es sind oft gerade diese Menschen, die sich nicht uneingeschränkt auf die staatlichen Sicherheitsorgane verlassen können.
Die Liste rechtsterroristischer Gewalttaten in Deutschland ist mit den Anschlägen und Tötungen von Kassel, Halle und Hanau länger geworden. Während die Bundesregierung für den Zeitraum 1990 bis 2020 offiziell von 106 Todesopfern rechter Gewalt spricht, dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung mindestens 213 Todesopfer rechter Gewalt sowie 13 weitere Verdachtsfälle. Nach Schätzungen des Bundeskriminalamts gab es im gleichen Zeitraum etwa 32.000 rechtsextreme Gewalttaten.
Die rechte Gewalt richtet sich nicht allein gegen Jüd:innen, Muslim:innen, Schwarze und Migrant:innen. Opfer sind auch Lokalpolitiker:innen, Feminist:innen, linke Aktivist:innen und engagierte Bürger:innen, die sich dem Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus entgegenstellen. Verschiedene rechte Terrornetzwerke bewaffnen sich bis an die Zähne. Nach der Leipziger Autoritarismus-Studie 2020 der Universität Leipzig, u.a. im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung, ist für knapp die Hälfte der Rechtsextremen körperliche Gewalt ein legitimes Mittel der Auseinandersetzung, ein Viertel von ihnen ist selbst zur Gewalt bereit.
Verschärft wird die Lage, wenn Sicherheitsorgane des Staates, ausgestattet mit dem Gewaltmonopol, die Gesellschaft und den Rechtsstaat zu schützen, selbst zur Gefahr für Demokratie und Sicherheit werden. Rassistische, rechtsextreme und neonazistische Strukturen und Netzwerke in der Polizei, dem Spezialeinsatzkommando, der Bundeswehr und dem Verfassungsschutz führen zum Verlust des Grundvertrauens in die Institutionen. Seit 2017 sind 377 Fälle von vermuteten oder nachgewiesenen rechtsextremen Fällen in Sicherheitsbehörden und mehr als 1064 Verdachtsfälle bei der Bundeswehr dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte natürlich viel höher ausfallen. Der politische Wille, rechtsextreme Fälle und Strukturen in den eigenen Reihen zu dokumentieren und aufzuklären, ist weiterhin schwach ausgeprägt. Doch wenn Beamt:innen des Staates – Tarnung hin Tarnung her – Todesdrohungen an Bürger:innen verschicken, machen sich Vertreter:innen des Staates endgültig zu Kompliz:innen des rechten Terrors.
Dennoch sind es nicht allein die Sicherheitsorgane, die kontinuierlich schweigen und mauern, wenn es um die Aufklärung und Bekämpfung von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus in den eigenen Reihen geht. Auch Politiker:innen, die den Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus seit Jahrzenten verharmlost und verdrängt haben, tragen eine Verantwortung. Die systemische Weigerung, die Mordserie des Terrornetzwerks NSU vorbehaltlos aufzuklären, ist in den Memoiren dieses Landes eingebrannt.
Herkunft, Hautfarbe und Religion als zentrale Kriterien von Sicherheit und Ordnung spielen im Denken von Sicherheitsorganen weiterhin eine große Rolle. Racial Profiling entlarvt die Geisteshaltung vieler Sicherheitspolitiker:innen hierzulande. Diese Mentalität kriminalisiert und illegalisiert einen Teil der Gesellschaft. Gleichzeitig privilegiert sie einen anderen Teil der Gesellschaft, den sie für schützenswert hält. Genau diese spalterische Geisteshaltung führt zur Relativierung und Verharmlosung des rechten Terrorismus in Deutschland. Der Staat und seine Sicherheitsorgane haben nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Verantwortung, alle Bürger:innen dieses Landes zu schützen. Vernachlässigt der Staat seine Verantwortung, die Gesellschaft als Ganzes zu schützen, nimmt er nicht nur den institutionellen und strukturellen Rassismus bewusst in Kauf, sondern riskiert auch die körperliche Unversehrtheit von Menschen.
Zehn Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU stellt sich heute mehr denn je die Frage: Wie kann die offene Gesellschaft vor Angriffen von rechts geschützt werden? Welche Sicherheitskonzepte und -strukturen sind notwendig, um die demokratische Gesellschaft und ihre Vielfalt zu verteidigen? Wie kann sichergestellt werden, dass staatliche Institutionen wie die Polizei, die Bundeswehr, der Verfassungsschutz und andere Behörden rechtsextreme Ideologien und Netzwerke in den eigenen Reihen konsequent bekämpfen?
Mit dem vorliegenden Dossier wollen wir gemeinsam mit einer Reihe ausgewiesener Expert:innen einen Beitrag für eine Sicherheitsdebatte in Deutschland leisten, in der alle Menschen gleichermaßen mitgedacht werden. In drei Kapiteln setzt sich die Publikation historisch, politisch und kritisch mit den Kontinuitäten und Strukturen des rechten Terrors in Deutschland, mit der Anschlussfähigkeit rechter Ideologien in Gesellschaft und Sicherheitsbehörden sowie mit Forderungen Betroffener und Perspektiven des Widerstands gegen rassistische, antisemitische und rechtsextreme Gewalt auseinander.
Unser Dank gilt den Kuratorinnen Sarah Schwahn und Sarah Ulrich, die mit akribischer Recherche und großem Engagement alle Beiträge der Publikation zusammengestellt haben.
Timo Reinfrank Mekonnen Mesghena
Gesine Agena Heinrich-Böll-Stiftung
Judith Rahner
Amadeu Antonio Stiftung